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Vorstellung engagierter JSDR – Mitglieder: Edwin Warkentin

Ein Schlüsselerlebnis auf der Suche nach der Identität

Als Kind verbrachte ich die Sommer im sibirischen Dorf meiner Großeltern. Einst, an einem heißen Nachmittag nahm mich die Oma mit zu ihrer Mutter, zu meiner Uroma Agathe. Regelmäßig trafen sie sich um christliche Lieder zu singen. Im Haus war es angenehm kühl und dunkel. Die zwei Frauen sprachen Plautdietsch und ich verstand kein Wort. Aber noch mehr verwunderte mich ein seltsamer Duft im Haus, den ich bis dahin nicht kannte. Es roch ein wenig nach verbranntem Brot aber angenehm nussig. Es sei Kaffee, sagte man mir, und nichts für Kinder. Es war aber nicht Prips, der Zichoriekaffee, den man sonst immer trank. Es war echter brasilianischer Kaffee, den Uroma Agathe regelmäßig von ihren Verwandten aus Paraguay und Kanada als Postsendungen bekam. Solche Länder kannte ich noch nicht, und man sagte mir, dass sie sehr, sehr weit weg waren – „Hinter dem Ozean! Da leben Schwestern von Uroma.“ Das verstand ich nun gar nicht: „Wie kann es sein, dass Uroma Agathe hier, bei uns lebt und ihre Schwestern weit weg, hinter dem Ozean?“

Es war die erste Frage, der erste Antrag an die Erinnerung, der Anfang meiner Reisen zu den Wurzeln meiner russlanddeutschen Familien über Ozeane und über Jahrhunderte.

Seit der frühesten Kindheit bin ich mit und in der Kultur der Russlanddeutschen aufgewachsen. Sicher war es der Berufung meiner Eltern geschuldet, dass die Teilnahme am kollektiven Erinnern, an russlanddeutscher Kultur und der familiäre Gebrauch der deutschen Sprache selbstverständlich waren, aber eher noch, waren es die Großeltern, die einen wichtigen Beitrag zu meiner Identität leisteten. Sie stellten sich nicht die Frage, wie man die Kultur der Russlanddeutschen hegt und pflegt, sondern sie waren die besten Anschauungsobjekte dieser Kultur – einerseits mennonitisch-plauttdietsch und anderseits lutherisch-wolgadeutsch. Mich interessierte nicht so sehr der Unterschied zwischen der offiziellen Staatskultur und der Kultur der deutschen Minderheit, sondern es waren die offensichtlichen Unterschiede dieser beiden Familien, die mich regelrecht fesselten. Erst durch diesen Vergleich ist mir die Vielfalt der deutschen Kulturen im Russischen Reich und in der Sowjetunion bewusst geworden. Was diese unterschiedlichen Familien allerdings einte, war ihre außerordentliche Verbundenheit mit der sibirischen Erde, die sie als Pioniere Anfang des 20. Jahrhunderts, unter widrigsten Bedingungen aber mit dem sturen „Kolonisten“-Fleiß und der nötigen Bauernschläue urbar machten. So ergab sich eine zweite wichtige Erkenntnis, dass trotz der Unterschiede, sie ein wichtiger Bestandteil der russischen Kolonialgeschichte waren. Zur Schicksalsgemeinschaft machte sie der russlanddeutsche Ereigniskomplex ausgelöst durch den Zweiten Weltkrieges. Darüberhinaus wollte ich unbedingt herausfinden, welche Orte meine Vorfahren verließen, um ihr Glück in Russland zu suchen und warum sie das taten. Diese Forschungen erschienen mir plötzlich zu einer Suche nach dem archimedischen Punkt meiner Identität zu werden. Es ging darum sich selber auf der Landkarte zu definieren und den eigenen Strom in den Zeitläufen der Vergangenheit zu erkunden: kurzum, das alte Fundament für das neue Zuhause in Stand zu setzten. 
Aus dieser Erfahrung ergab sich für mich die Überzeugung, dass die Integration russlanddeutscher Jugendlicher in Deutschland erst dann gelungen ist, wenn sie sich hier nicht nur wie Zuhause fühlen, sondern wenn sie merken, dass sie ein Teil dieses Zuhause sind. Ein besonderes, unverwechselbares Familienmitglied. Eine auf diesem Wege gewonnene Selbstwertschätzung, geht über die nötigen Anforderung der Integration hinaus und erlaubt demjenigen ohne seine Identität aufgeben zu müssen, sich selbstbewusst und schöpferisch in die Gesellschaft einzubringen. 
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Edwin Warkentin
Geboren 1981 in Temirtau (Kasachstan)
Lebt in München
Studierte russische Literatur, Geschichte und Politik an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Zur Zeit projektbezogener wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestagsbüro bei Dr. Christoph Bergner Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten.
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„Der Herkunft Zukunft geben. Familienforschung als Zugang zur Geschichte der Russlanddeutschen“ –
mit diesem Thema könnt ihr eure Mitglieder für Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen begeistern, wenn unser Kulturreferent Edwin Warkentin bei euch zu Gast ist.

Mit seinem Seminarangebot (1-tägig)  wird er jeden einzelnen ansprechen und eurer Gruppe helfen, neue Ideen für kulturorientierte Projekte zu entwickeln. Die Maßnahme wird im Rahmen des Integrationsprojektes „ServuS“ (gefördert durch das BMFSFJ) durchgeführt, die Kosten für den Referenten werden übernommen.